Ich hab das schon bei Mad Max geschrieben und mir sind inzwischen einige andere Games eingefallen, die ähnlich “durchgefallen” sind bei den einschlägigen Profikritiker*innen: Namentlich das erste Borderlands, id’s Rage und Mass Effect Andromeda. Wenn ich weiter zurück denke gibt es sicher noch mehr. Das Muster ist immer ähnlich: Das passiert sehr oft dann, wenn ein Spiel nicht den Erwartungen entspricht. Erkennbar daran, dass den meisten Platz der Rezension Text darüber beansprucht, was das Spiel nicht ist, aber nach Meinung des Rezensenten sein sollte, um von ihm als gut befunden zu werden.
Nun also Anthem: Ein Teamshooter von Bioware, der scheinbar nicht das bringt, was ein Teamshooter bringen soll und gleichzeitig ein Bioware-Spiel, das nicht bringt, was man von einem Bioware-Spiel erwartet. Was es anscheinend gleich doppelt Scheiße macht.

Nun, ich spiele es und es gefällt mir ausnehmend gut – wie schon Borderlands, Rage, Mad Max und Andromeda erzeugt es bei mir genau das, was dafür sorgt, dass mich ein Spiel wirklich packt: Immersion. Die Welt ist kein künstlicher – und damit inhaltlich beliebiger – Themepark wie Blizzard-Spiele sie bauen, sondern funktioniert in sich, bietet atemberaubende Landschaften und eine Stimmung, die nur aufkommen kann, wenn sie eben nicht nur eine Kulisse ist, die der Spielmechanik untergeordnet wird, sondern in der man das Gefühl hat, sich wirklich in einer “echten” Welt zu bewegen.

Dann die Bewegung selbst: Ich habe letzte Woche wieder Andromeda weitergespielt und vielleicht ist es dem geschuldet, dass ich überhaupt kein Problem damit hatte, mich sofort sicher durch die Umgebung bewegen zu können, aber echt mal: So einfach bin ich schon sehr lange nicht in den Flow eines Bewegungssystems gekommen. Die Mischung aus Gehen, springen, fliegen, laufen, tauchen, schweben und der nahtlose Wechsel dazwischen funktioniert so flüssig und natürlich, dass Anthem von der ersten Sekunde an einen riesen Spaß macht. Hut ab vor dieser großartigen Evolution des Bewegungssystems von Mass Effect, das ja eigentlich ein Deckungsshooter ist und nun in Anthem zu einem krass schnellen, aber nie hektischen Actionsystem ausgebaut wurde.

Dann etwas, was ich schon bei The Division wichtig fand: Man kann die Story wunderbar alleine spielen, mit dem eigenen Tempo und dem eigenen Stil. Im Team macht Anthem aber ebenfalls viel Spaß, denn – im Gegensatz zu The Division, wo alle Spieler*innen quasi dasselbe tun – ergänzt man sich hier mit den Fähigkeiten der unterschiedlichen Kampfanzüge effektiv und es passiert – ebenfalls im Gegensatz zu anderen Teamshootern – eher selten, dass andere Spieler einfach durch die Mission rushen und man gar keine Gelegenheit bekommt, sich zu beteiligen.
Was ebenfalls schön ist: Ja, es gibt Crafting und zig Möglichkeiten, irgendwas einzusammeln, es gibt eine Ingame-Währung für alle möglichen Kinkerlitzchen, man kann viel Zeit damit verbringen, an seinen Kampfanzügen zu basteln und es gibt Loot in “common”, “uncommon”, “rare” und “legendary”. Aber nicht in dieser unüberschaubaren Menge, dass man sich in Frickeligkeiten verliert, wie es sie in anderen Spielen des Genres passiert und wo man ständig die Karotte vor der Nase hat, dass es vielleicht noch ein Prozentchen mehr rauszuholen gibt bei der Mikrooptimierung seiner Ausrüstung.

Stattdessen kann man sich in Gesprächen und Texten in der Hintergrundgeschichte verlieren, wenn man will. Und ich will, denn Bioware hat einfach mal echt gute Autor*innen, bei denen es mir nie langweilig wird, selbst die Mails im “Spam”-Ordner zu lesen, weil man sich darüber amüsieren kann, wenn man dort einen Kettenbrief findet, der einem die schrecklichsten Dinge an den Hals wünscht, wenn man ihn nicht an mindestens 5 Personen weiterleitet.
Überhaupt. Das mit der Story. Ich glaube, eine der Dinge, die Kritiker*innen überbewerten ist die Forderung nach “meaningful choices”. Klar, wenns gut gemacht ist, ist das prima, aber es ist kein Muss, um eine gute Atmosphäre zu kreieren. Anthem ist außerdem kein Rollenspiel, da geht wohl vielen das Erwartungsmanagement daneben. Stilistisch ist das genau, was alle wollen: Ein Bioware-Spiel. Eine erfrischend andere, krass tief ausgearbeitete Welt, in die man versinken kann und in der ich als Spieler meinen Weg so finden und gehen kann, wie ich möchte.
Würde ich bei Bioware arbeiten, würde mich seit 10 Jahren massiv stören, dass meine Arbeit nur an völligen Nebensächlichkeiten festgemacht wird wie die Option, mit einem NPC in die Kiste zu steigen. Das brauche ich nicht und wenn man sich die Letsplays und anderen Videos dazu anschaut, wird das auch gar nicht dazu verwendet, den eigenen Character konsequent und konsistent zu spielen sondern es geht darum, welche Aktionen für welche Figur die Sexszene freischaltet – und das wird dann abgearbeitet, ob das zu meiner Figur passt oder nicht. Dass sowas hier wegfällt ist daher für mich total in Ordnung.

Anthem ist nun mal in erster Linie ein Actionspiel und die Action funktioniert großartig. Die Waffen haben wirklich schöne, unterschiedliche Eigenschaften, die Gegner sind abwechslungsreich und die kleinen und mittleren Bosse (einen großen hab ich noch nicht gehabt), schön komplex. Mir gefällt, dass die “soft spots” nicht einfach nur farbig hervorgehobene Stellen sind, sondern Sinn machen, wie zB bei dem Flammenwerfer-Tank da oben, bei dem man hinter ihn gelangen muss, um auf die Benzinkanister zu schießen.
Die Gegner sind auch nicht – wie wir letztens bei der Beta von The Division 2 wieder feststellen mussten – unfair. Das Spiel schummelt nicht, indem Gegner mal eben drei mal so schnell rennen oder einen sehen können, egal wie unwahrscheinlich das ist. Der Flow bei Kämpfen liegt sehr stark beim Spieler: Ich kann jederzeit mal richtig Abstand schaffen und dann einfach mal mitten ins Getümmel springen, je nachdem, wozu ich grade Lust habe. Das klappt so gut, dass es sogar Spaß macht, mit Risiko zu spielen, etwas was andere Spiele einem ja gerne aufzwingen. Auch das übrigens ist typisch Bioware.

Und dann lese ich überall, dass die Missionen repetitiv seien. Dasselbe übrigens, was ich schon bei Borderlands und Mad Max las und mich ein bisschen verwirrt zurücklässt. Wie testen die denn? Und was? Teamshooter leben ja generell nicht von elaborierter Abwechslung – auch hier fällt mir wieder The Division ein, das zig mal repetitiver ist mit seiner immer gleichen Aufbau aus Schlauchleveln, in denen man statisch ein paar Wavehorden, Midsize-Bosse und den Endboss plattlegen muss -aber gerade da hebst sich Anthem ganz hervorragend heraus: Natürlich wird auch da mit Gegnerwellen- und Bossarenenen gearbeitet. Was den Vorwurf ungefähr so sinnvoll macht wie sich bei Super Mario zu beklagen, dass man da ja immer nur hpft und rennt. Aber man agiert hier mit einem Kampfanzug, der einem eine Bewegungsfreiheit gibt, die man so noch nie in einem Teamshooter hatte. Haben die keine taktische Fantasie? Sind die zu eingefahren, um die Möglichkeiten, die die Umgebung und die Spielfigur bieten, zu erkennen und zu nutzen?

Was ich auch super finde: Die haben keine Zeit in einen PvP-Modus gesteckt. Der Aufwand wäre für mich verlorene Mühe. Wenn ich PvP spielen will, spiele ich einen PvP-Shooter wie Quake Champions.
Wenn ich also sehe, dass zB die Gamestar dem Spiel nur 67 Punkte gibt, werden mir zwei Dinge deutlich: Was mich an einem Spiel fesselt ist ganz offensichtlich nichts, was im Qualitätskatalog von Profis eine große Rolle spielt. Oder, und das ist auch schon länger eine Theorie von mir, es gibt Spiele, die in den professionellen Testprozess passen und es gibt die, die es nicht tun. Anthem ist für mich das inzwischen fünfte Beispiel dafür.